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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberverwaltungsgericht Bremen
Beschluss verkündet am 12.05.2009
Aktenzeichen: S3 B 10/09
Rechtsgebiete: SGB XII


Vorschriften:

SGB XII § 53 Abs. 1 Satz 1
Zur Frage, ob ein an Diabetes erkranktes Kind für den Besuch eines Kindertagesheims eine persönliche Assistenz beanspruchen kann.
OVG: S3 B 10/09

Beschluss

In dem Rechtsstreit

hat das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 3. Senat für Sozialgerichtssachen - durch Richterin Meyer, Richter Dr. Grundmann und Richter Dr. Bauer am 12.05.2009 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen - 4. Kammer für Sozialgerichtssachen - vom 08.12.2008 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

1.

Die Antragstellerin begehrt die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für eine persönliche Assistenz während des Kindergartenbesuches.

Die Antragstellerin ist am 21. Februar 2004 geboren. Seit dem Kindergartenjahr 2007/2008 besucht sie das Kindertagesheim der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Martini. Im Juni 2008 wurde festgestellt, dass die Antragstellerin an Diabetes Mellitus Typ I erkrankt ist.

Am 16. Juli 2008 beantragte die Antragstellerin beim Amt für Soziale Dienste die Übernahme der Kosten für eine persönliche Assistenz. Durch die persönliche Assistenz solle eine begleitende Beobachtung und ein ggf. schnelles Eingreifen sichergestellt werden.

Das Amt für Soziale Dienste lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22. August 2008 ab. Soweit es um die medizinische Betreuung gehe, seien die Leistungen von der Krankenkasse zu übernehmen. Im Übrigen gehöre es zu den Aufgaben einer Erzieherin, Unwohlsein und Müdigkeit der Kinder zu beobachten und ggf. entsprechend zu handeln.

Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin Widerspruch ein.

Außerdem hat sie beim Verwaltungsgericht beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zur Übernahme der Kosten der persönlichen Assistenz zu verpflichten.

Das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin durch Beschluss vom 08. Dezember 2008 verpflichtet, der Antragstellerin zunächst für drei Monate die Kosten für die Begleitung (persönliche Assistenz) während des Besuchs der Kindertagesstätte St. Martini zu bewilligen.

Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragsgegnerin mit der Beschwerde.

2.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat die einstweilige Anordnung zu Recht erlassen. Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 2 und Satz 4 SGB II i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).

I.

Der Anordnungsgrund ist nicht deshalb entfallen, weil die Bremische Evangelische Kirche (BEK), die die persönliche Assistenz stellt, den Vertrag mit der Betreuerin der Antragstellerin bis zum Ende des Kindergartenjahres im Sommer 2009 verlängert hat. Denn die Antragstellerin hat glaubhaft vorgetragen, dass diese Verlängerung nur erfolgt ist, weil die Antragsgegnerin sich weigert, die Kosten für die Assistenz zu übernehmen. In einem solchem Fall kann der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht schon mit dem Hinweis auf eine vorläufige Sicherstellung der Betreuung durch die BEK verneint werden; vielmehr bleibt die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Verpflichtung der Antragsgegnerin davon unberührt und ist zu prüfen, ob die Weigerung der Antragsgegnerin zu Recht oder zu Unrecht erfolgt ist, ob also der Antragstellerin ein Anordnungsanspruch zusteht.

II.

Das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung nachvollziehbar und zutreffend ausgeführt, dass die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat. Darauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.

Das Beschwerdeverfahren gibt keinen Anlass zu abweichender Entscheidung.

Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann.

Bei der an Diabetes Mellitus Typ I erkrankten Antragstellerin liegt, wie schon das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX vor, die ihre Fähigkeit, am gesellschaftlichem Leben teilzunehmen, wesentlich einschränkt. Das ergibt sich auch aus der sozialpädiatrischen Stellungnahme des Gesundheitsamts Bremen (Frau Dr. H) vom 18. August 2008 zum Förderungsantrag der Antragstellerin. Darin heißt es, es liege eine körperliche Behinderung vor; die angeführten Befunde bestünden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nur vorübergehend und gefährdeten die Eingliederung in die Gesellschaft. Ein "spezifischer Mehrbedarf" wird ausdrücklich empfohlen.

Soweit die Antragstellerin sich gegen diese ärztliche Stellungnahme wendet, zeigt sie keine Umstände auf, die dem Senat Anlass geben könnten, der Einschätzung des Gesundheitsamts im Eilverfahren nicht zu folgen. Dass es sich bei dem Leiden der Antragstellerin auch um eine Erkrankung handelt, schließt die Annahme einer Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht aus.

Auch der Hinweis der Antragsgegnerin darauf, dass die Kosten für den Pflegedienst bei der Krankenkasse zu beantragen bzw. durch ein eventuell vorhandenes Pflegegeld zu finanzieren seien, steht dem Begehren der Antragstellerin nicht entgegen. Denn es geht hier nicht um die von der Krankenkasse zu gewährende Behandlungspflege. Deren Art und Umfang wird gem. § 37 Abs. 2 SGB V durch die Verordnung eines Vertragsarztes bestimmt. Nicht abgedeckt wird von der ärztlichen Verordnung die von der Antragstellerin begehrte persönliche Assistenz während des Kindergartenbesuches, ohne die die Antragstellerin nach ihrer Auffassung nicht am Gemeinschaftsleben im Kindergarten teilnehmen kann.

Der Senat vermag der Antragsgegnerin nach summarischer Prüfung auch nicht darin zu folgen, dass die notwendige Überwachung der Blutzuckerwerte der Antragstellerin durch die Erzieherinnen des Kindertagesheims sicherzustellen ist. Es ist schon sehr zweifelhaft, ob einer Erzieherin, die 20 Kinder zu betreuen hat, überhaupt hinreichend Zeit zur Verfügung steht, um diese Aufgabe mit der erforderlichen Sorgfalt wahrzunehmen. Jedenfalls ist aufgrund der Ausführungen des Gesundheitsamts in der sozialpädiatrischen Stellungnahme vom 18. August 2008 anzunehmen, dass im Fall der Antragstellerin die beantragte persönliche Assistenz erforderlich ist. In der Stellungnahme wird darauf hingewiesen, dass die Erkrankung der Antragstellerin im Juni 2008 "nach akutem Krankheitsverlauf" diagnostiziert wurde. Zur Begründung der Befürwortung eines "spezifischen Mehrbedarfs" für die Antragstellerin wird ausgeführt, es sei darauf zu achten, dass die (meist von zu Hause mitgebrachten) genau berechneten Mahlzeiten zeitgerecht und vollständig gegessen werden, andererseits keine Nahrungsmittel von anderen Kindern zu sich genommen werden. Nach Absprache mit den Eltern seien regelmäßig und eventuell zusätzlich bei Bedarf Blutzuckertestungen durchzuführen; diese seien ebenso wie die exakte Nahrungszufuhr zu protokollieren und die Messungen seien zu interpretieren, um die weitere Nahrungszufuhr danach auszurichten. Insbesondere sei bei der Antragstellerin "eine ständige vermehrte Beaufsichtigung und Beobachtung notwendig, da bei ihr ein deutlich erhöhtes gesundheitliches Risiko besteht, dass durch die bei neu eingestelltem Diabetes im Kindesalter auftretenden erheblichen Blutzuckerschwankungen der Gefahr der lebensgefährlichen Unterzuckerung gegeben ist." Anlass, diese Ausführungen zu bezweifeln hat der Senat nicht.

Die Notwendigkeit einer vermehrten Beaufsichtigung wird noch unterstrichen durch die dem Senat vorliegenden Tagebuchaufzeichnungen, die die derzeitige persönliche Assistenz der Antragstellerin für die Zeit vom 25. August 2008 bis 26. September 2008 erstellt hat. Diesen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass es Zeiträume gab, in denen die Antragstellerin "aufgedreht" war, trotz teilweise sehr niedriger Blutzuckerwerte. Die sonst typischen Anzeichen einer Unter- oder Überzuckerung blieben aus, was die Gefahren für die Antragstellerin deutlich erhöhte.

Bei dieser Sachlage hält es der Senat für überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch auf eine persönliche Assistenz für die hier streitige Zeit des Kindergartenbesuches zusteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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